Venedig droht im Meer zu versinken – ein bekanntes und dennoch immer drängenderes Problem. Pietro Teatini, Professor für Wasserbau an der Universität Padua, schlägt eine überraschende Lösung vor: Die gesamte Stadt soll durch gezielte Tiefenwasserinjektionen um 30 cm angehoben werden. Dieses Verfahren soll Venedig Zeit verschaffen, um mit den steigenden Meeresspiegeln zurechtzukommen. Kritische Stimmen mahnen zur Vorsicht, doch die Uhr tickt – und Alternativen sind rar.

Das erwartet Sie in diesem Beitrag
- Die „schwimmende Stadt“ sinkt weiter
- MOSE – ein Milliardenprojekt gegen das Wasser
- Der Plan: Venedig um 30 cm anheben
- Technische Umsetzung: Pumpen statt Bohren
- Testbohrungen und Risiken
- Alternative Konzepte: Beton, Seen, Aufgeben?
- Venedigs Zeitfenster – 50 Jahre für neue Lösungen
- Ein persönliches Anliegen
Die „schwimmende Stadt“ sinkt weiter
Venedig ist ein Symbol. Für Romantik, Geschichte – und seit geraumer Zeit für eine drohende Katastrophe. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist die Stadt um rund 25 cm abgesackt. Gleichzeitig ist der Meeresspiegel um etwa 30 cm gestiegen. Der Trend setzt sich fort: Venedig verliert jährlich etwa zwei Millimeter an Höhe, während der Meeresspiegel um rund fünf Millimeter pro Jahr zunimmt.
Diese Entwicklung führt zu häufigeren und stärkeren Überschwemmungen. Schon heute gelten Werte über 110 cm Wasserstand als kritisch – Werte, die früher als Ausnahme galten, sind heute zur Regel geworden.
MOSE – ein Milliardenprojekt gegen das Wasser
Seit 2020 wird das MOSE-System eingesetzt, ein beweglicher Flutschutz aus 78 Stahlbarrieren. Sie sollen bei Hochwasser die Lagune von der Adria abschotten. Ursprünglich war der Einsatz nur wenige Male pro Jahr geplant. Heute müssen die Barrieren jedoch oft aktiviert werden – mehr als 100-mal allein seit ihrer Inbetriebnahme.
Das System funktioniert, doch es hat Nebenwirkungen: Jede Aktivierung verhindert den Wasseraustausch zwischen Lagune und Meer. Dies gefährdet langfristig das empfindliche Ökosystem der Lagune. Zudem unterbricht es die Schifffahrt – in einer Stadt, deren Verkehr auf dem Wasser stattfindet.
MOSE ist ein aufwendiges System mit einem Preis von rund sechs Milliarden Euro – und trotzdem nur eine temporäre Lösung. Die Stadt sinkt weiter, das Meer steigt weiter.
Steht Venedig wirklich auf Holzpfählen?
Die Vorstellung, ganz Venedig stehe auf einem riesigen Wald aus Baumstämmen, ist nur teilweise korrekt. Tatsächlich ruhen nur die kanalseitigen Fassaden und Brücken auf Pfählen – meist aus Eiche, Erle oder Pappel.
Die eigentliche Stadt steht auf rund 100 Inseln aus Sand- und Schlickbänken. Typische Gebäude ruhen auf vier tragenden Mauern, die senkrecht zum Kanal verlaufen. Diese Mauern wurden mit Holzbalken verklammert und bilden das Gerüst des Gebäudes.
Pfahlgründungen verhindern das Abrutschen am Ufer: Bis zu 3 Meter lange Pfähle wurden mit 50 cm Abstand in den Untergrund gerammt, die Zwischenräume mit Lehm und Schlick verfüllt. Darüber liegen Lärchenbretter, Ziegelmauern und eine 30 cm hohe Horizontalsperre aus wasserdichtem Kalkstein.
Solange die Pfähle vollständig unter Wasser bleiben, sind sie extrem langlebig. Untersuchungen zeigen: Sie sind bis heute nicht morsch, sondern hart wie Stein.
Einzelne Bauwerke wie die Santa Maria della Salute ruhen auf über 1 Million Pfählen. Auch die Rialtobrücke wurde mit rund 12.000 Pfählen gegründet.
Der Plan: Venedig um 30 cm anheben
Pietro Teatini hat einen anderen Vorschlag: Statt den Wasserspiegel zu kontrollieren, will er die Stadt selbst anheben. Dazu soll Wasser in tiefe Grundwasserleiter unter der Stadt gepumpt werden.
In etwa 600 bis 1.000 m Tiefe soll es eingebracht werden – dort, wo die Erde aus porösem Gestein besteht, das Flüssigkeit aufnehmen und sich dabei ausdehnen kann.
Das Prinzip beruht auf einer einfachen Beobachtung: In Norditalien wird seit Jahrzehnten Gas in unterirdische Kavernen eingespeist. Dabei hebt sich der Boden leicht – beim Entnehmen sinkt er wieder. Teatini will diesen Effekt nutzen – allerdings mit Wasser statt Gas.
Er rechnet damit, dass sich das Stadtgebiet so über Jahre hinweg um etwa 30 cm anheben lässt. Damit hätte Venedig etwa 50 Jahre Zeit gewonnen, um sich langfristig auf den steigenden Meeresspiegel einzustellen.
Technische Umsetzung: Pumpen statt Bohren
Geplant ist der Bau von rund einem Dutzend Brunnen rund um das Stadtgebiet – mit jeweils über 1000 m Tiefe. Das Wasser soll nicht unter hohem Druck eingeleitet werden, sondern langsam einsickern.
Dabei entstehen keine Risse, keine plötzlichen Erhebungen – sondern eine langsame, gleichmäßige Anhebung. Entscheidend ist die Anordnung der Brunnen im Kreis, denn dadurch verteilt sich der Druck gleichmäßig.
Die Herausforderung liegt in der Stabilität. Teatini betont gegenüber CNN: „Wenn wir anfangen zu brechen, ist das eine Katastrophe.“ Daher werden nur geringe Drücke eingesetzt. Ergänzend sollen Zusatzstoffe helfen, die Struktur im Untergrund zu stabilisieren.
Testbohrungen und Risiken
Ein vollständiger Testlauf soll vor einer großflächigen Umsetzung erfolgen. Etwa 30 bis 40 Millionen Euro veranschlagt Teatini für ein Pilotprojekt in einem abgelegenen Teil der Lagune.
Auch wenn die Risiken gering erscheinen, bleibt Skepsis. Erdmaterialien reagieren nicht immer wie gewünscht. Der britische Geologe David Dobson meint: „Wenn die Pumpgeschwindigkeit stimmt und eine Anhebung messbar ist, könnte es sinnvoll sein, es zu versuchen.“
Doch er warnt auch vor den physikalischen Grenzen: Verdichtete Gesteinsschichten lassen sich nicht einfach wieder aufblähen. Ein falscher Druck könnte Risse erzeugen – mit unkalkulierbaren Folgen.
Alternative Konzepte: Beton, Seen, Aufgeben?
Bereits in den 1970er-Jahren wurde auf der Insel Poveglia Zement in 10 m Tiefe injiziert, um eine Anhebung zu erzielen. Doch für die Stadt Venedig wäre diese Methode ungeeignet: zu viele Bohrungen, zu wenig Kontrolle.
Andere Konzepte gehen noch weiter: die Lagune vollständig vom Meer abzutrennen, sie in einen See zu verwandeln. Das könnte Venedig erhalten – aber das Ökosystem zerstören. Teatini lehnt dies ab. „Die Lagune ist Teil von Venedig selbst.“
Einige Stimmen schlagen sogar vor, die Stadt ganz aufzugeben. Die Einwohnerzahl sinkt, viele ziehen aufs Festland. Doch Teatini hält das für falsch. „Es gibt keinen anderen Ort wie Venedig.“
Venedigs Zeitfenster – 50 Jahre für neue Lösungen
Teatini versteht seinen Vorschlag nicht als endgültige Lösung, sondern als Zeitgewinn. Zusammen mit dem MOSE-System könne man rund 50 Jahre überbrücken. Danach müsse eine dauerhafte Strategie gefunden werden.
„Wir müssen etwas viel Drastischeres entwickeln“, sagt er. Und meint damit nicht eine Notmaßnahme, sondern eine nachhaltige Vision.
Im März 2025 wurde eine neue Institution gegründet: die „Autorità per la Laguna“. Sie soll koordinieren, forschen und langfristige Pläne erarbeiten. Auch ein Crowdfunding-Modell könnte zur Finanzierung beitragen, so Teatini.
Ein persönliches Anliegen
Für Teatini ist Venedig mehr als ein Projekt. Er lebt in der Nähe, seine Karriere begann mit einer Masterarbeit über die Bodensenkung der Stadt. „Wir forschen daran seit den 1970er-Jahren.“
Er ist überzeugt, dass sein Plan nicht nur technisch realisierbar, sondern auch notwendig ist. „Venedig auf einem Hügel – das wäre nicht mehr Venedig.“
Die Idee, Venedig langsam anzuheben, klingt ungewöhnlich. Aber sie ist fundiert. Und sie könnte die Stadt retten – oder ihr zumindest eine Gnadenfrist verschaffen.