Venedig ist berühmt für seine Kanäle, Gondeln und Paläste. „Stadt der Brücken“, „schwimmende Stadt“ oder „Stadt auf Pfählen“ – viele Namen kreisen um denselben Mythos. Doch wie steht Venedig tatsächlich auf diesem unsicheren Grund? Und warum hält die Stadt seit mehr als 1500 Jahren?
Um das zu verstehen, lohnt sich ein Blick unter die Wasseroberfläche. Dort verbirgt sich ein technisches Meisterwerk, das die Geschichte der Baukunst geprägt hat.

Das erwartet Sie in diesem Beitrag
- Die Anfänge in der Lagune
- Ein Wald unter Wasser
- Beispiele für dem Holzbedarf
- Warum das Holz nicht verrottet
- Kalkstein als Schutzschild
- So überstehen die Mauern sogar Erdbeben
- Details zur Bautechnik in Venedig
- Venedig wird Großmacht
- Alltag im Labyrinth
- Sinkende Stadt
- Kampf gegen das Wasser: Das MOSE-Projekt
Die Anfänge in der Lagune
Die ersten Siedler kamen im 5. Jahrhundert. Sie suchten Schutz vor den Einfällen germanischer Stämme und flohen auf kleine Sandinseln in der Lagune. Anfangs errichteten sie einfache Hütten, die im Schlamm versanken. Erst mit der Zeit entwickelten sie eine Technik, die aus dem unsicheren Boden eine tragfähige Grundlage machte.
Der Legende nach begann Venedigs Geschichte am 25. März 421. An diesem Tag soll die kleine Kirche San Giacomo di Rialto geweiht worden sein. Aus der provisorischen Zuflucht wurde langsam eine Stadt – und schließlich eine Seemacht.
Ein Wald unter Wasser
Die Lösung der Venezianer war so einfach wie genial: Holzpfähle. Millionen davon wurden in den Schlick gerammt. Sie reichten bis zur härteren Schicht im Boden, dem sogenannten Caranto. Diese verdichtete Lehmschicht liegt mehrere Meter tief und ist stabil genug, um Lasten zu tragen.
Darauf bauten die Menschen Plattformen aus Holz. Erst dann entstanden Mauern, Böden und Fassaden. Ganze Paläste ruhen bis heute auf dieser Konstruktion.
Beispiele für dem Holzbedarf
Manche Bauten verschlangen unglaubliche Mengen an Material. Für die Kirche Santa Maria della Salute sollen über 1,1 Millionen Pfähle in den Boden getrieben worden sein. Jeder Pfahl war rund vier Meter lang. Die Last der monumentalen Barockkirche verteilt sich dadurch auf einen riesigen unterirdischen Holz-Wald.
Auch die berühmte Rialto-Brücke steht auf einem dichten Gerüst aus Pfählen. Etwa 12.000 Stück wurden dafür in den Boden gerammt. Der Bau im 16. Jahrhundert galt als riskant, denn die Steinbrücke sollte den Hauptkanal überspannen – und das an einer Stelle, an der Schiffe besonders dicht vorbeifuhren. Viele Zeitgenossen hielten den Entwurf des Architekten Antonio da Ponte für waghalsig. Doch die Konstruktion hält bis heute.

Warum das Holz nicht verrottet
Viele fragen sich: Warum sind die Pfähle nicht längst zerfallen? Die Antwort liegt in der besonderen Umgebung.
- Sauerstoffmangel: Unter Wasser haben Pilze und Bakterien keine Chance, das Holz zu zersetzen.
- Salze im Wasser: Mit der Zeit lagern sich Mineralien in die Holzfasern ein. Die Pfähle härten aus, fast wie Stein.
- Holzarten: Verwendet wurden Eiche, Lärche und Erle. Diese Hölzer halten Nässe besonders gut aus.
Untersuchungen zeigen: Die Pfähle sind heute härter als zu Beginn. Untersuchungen und Unterwasseraufnahmen von Venedig zeigen, dass die Stämme und Pfähle im Laufe der vielen Jahrhunderte nicht morsch, sondern im Gegenteil eisenhart geworden sind.
Kalkstein als Schutzschild
Über den Pfählen legte man Platten aus Lärchenholz. Darauf errichteten die Bauleute eine Mauer aus Ziegeln oder Kalkstein. Besonders wichtig war der istrische Kalkstein, der aus Kroatien kam.
Dieser Stein ist extrem wasserresistent. Ein Sockel aus Kalksteinquadern schützt die Mauern bis heute vor aufsteigender Feuchtigkeit. Er markierte früher genau den Bereich zwischen Ebbe und Flut – damals nur 30 cm Unterschied.
Heute ist der Wasserstand höher, und die Sperre verliert an Wirkung. Viele Erdgeschosse sind inzwischen nicht mehr nutzbar, weil Wasser eindringt.
So überstehen die Mauern sogar Erdbeben
Venezianische Bauwerke haben noch ein anderes Geheimnis: Flexibilität. Die Fassaden sind nicht starr mit dem Gebäude verbunden, sondern mit Metallankern fixiert. So können sich Mauern leicht bewegen, ohne zu brechen.
Dieses Prinzip macht die Häuser widerstandsfähig gegen Bewegungen im Untergrund und sogar gegen Erdbeben. Der Dogenpalast etwa hat so die Jahrhunderte überstanden – trotz seines filigranen Aussehens.
Details zur Bautechnik in Venedig
1. Pfahlgründung im Detail
- Die Pfähle wurden nicht einzeln gesetzt, sondern in dichter Reihe – oft im Abstand von nur 20–30 cm.
- Sie wurden mit Rammen in den Boden geschlagen, ähnlich wie man heute Spundwände setzt.
- Länge: je nach Bauwerk 4 bis 8 Meter, in Ausnahmefällen länger, bis sie auf die Caranto-Schicht trafen.
2. Caranto-Schicht
- Diese natürliche Lehmschicht ist entscheidend: Sie bildet die tragende Grundlage.
- Dicke: meist nur 1–2 Meter, unterlagert von weicheren Sedimenten.
- Die Bauleute mussten daher sehr präzise arbeiten, damit die Pfähle tatsächlich in dieser Schicht Halt fanden.
3. Plattformen und Übergangsschichten
- Über den Pfählen wurden horizontale Balkenlagen (oft Lärche) verlegt.
- Darauf legte man mehrere Lagen Holzbohlen oder Steine, die die Last verteilten.
- Dann folgte eine Schicht aus Ziegelmauerwerk, oft 1,5 Meter hoch, bevor die sichtbare Fassade begann.
4. Ziegeltechnik
- Typisch venezianisch ist das abwechselnde Setzen von Voll- und Hohlziegeln.
- Diese Technik machte die Mauern leichter und zugleich stabiler.
- Die Last konnte sich so gleichmäßiger auf die Pfähle verteilen.
5. Verwendung von istrischem Kalkstein
- Der helle Kalkstein wurde nicht nur an Fassaden, sondern auch als wasserdichte Horizontalsperre eingesetzt.
- Er diente als „Opferschicht“, die die Mauern vor dem ständigen Wechsel von Ebbe und Flut schützen sollte.
6. Flexibilität der Bauwerke
- Die Fassadenanker waren ein ingenieurtechnisches Detail, das heute fast vergessen ist.
- Dadurch können die Mauern kleine Bewegungen aufnehmen, ohne dass Risse entstehen.
- Diese Technik war in Erdbebengebieten überlebenswichtig – und ist ein Grund, warum venezianische Paläste noch stehen.
7. Zahlen und Dimensionen
- Für den Dogenpalast wurden rund 100.000 Pfähle verwendet.
- Für Santa Maria della Salute: über 1,1 Millionen Pfähle.
- Rialto-Brücke: etwa 12.000 Pfähle.
- Insgesamt soll die Lagunenstadt auf mehr als 10 Millionen Pfählen ruhen.
Venedig wird Großmacht
Mit der Baukunst wuchs auch die Macht. Schon im 9. Jahrhundert errichteten die Menschen prächtige Kirchen. Als 828 die Reliquien des Heiligen Markus nach Venedig kamen, entstand die berühmte Markusbasilika.
Später, im 13. und 14. Jahrhundert, erlebte die Stadt ihre Blütezeit. Der Handel mit Salz, Gewürzen und Stoffen machte sie reich. Ihre Lage im Meer war ein Vorteil: Eroberer wie Pippin, der Sohn Karls des Großen, scheiterten am Wasser.
Venedig wurde zur Seerepublik und kontrollierte Handelswege bis nach Konstantinopel. Der Reichtum spiegelt sich bis heute in Palästen wie dem Ca’ d’Oro oder den Kirchen an der Piazza San Marco.
Alltag im Labyrinth
Wer heute durch Venedig geht, erlebt ein Netz aus Gassen, Brücken und Kanälen. Mehr als 400 Brücken verbinden die Inseln. 150 Kanäle dienen als Straßen. Autos gibt es nicht, nur Boote.
Früher waren Gondeln das wichtigste Verkehrsmittel. Heute nutzen sie vor allem Touristen. Einheimische steigen in Motorboote.
Venedig ist ein Labyrinth, das sich ständig verändert. „Immer wieder tauchen neue Brücken, Plätze, Kanäle auf, die die Neugier ergreifen und schon bald befindet sich der Besucher in einer ganz anderen Ecke als geplant.“

Sinkende Stadt
So stabil die Fundamente auch sind – Venedig hat ein Problem. Die Stadt sinkt langsam. Gleichzeitig steigt das Meer. Jährlich gibt es mehrere Hochwasserereignisse, die Plätze wie den Markusplatz überfluten.
Die Ursachen sind vielfältig:
- vertiefte Fahrrinnen für Schiffe,
- die enorme Verdrängung großer Kreuzfahrtschiffe,
- Bodensenkungen durch den weichen Untergrund.
Das berühmte „Acqua Alta“ wird häufiger und extremer. Manche Fluten erreichen 3 Meter.
Kampf gegen das Wasser: Das MOSE-Projekt
Um die Stadt zu schützen, startete Italien das MOSE-Projekt. Hinter dem sperrigen Namen („Modulo Sperimentale Elettromeccanico“) verbergen sich bewegliche Fluttore. Sie sollen die Lagune vom Meer abriegeln, wenn der Pegel steigt.
Die Idee klingt einfach, die Umsetzung war schwierig. Skandale, Korruption und Verzögerungen überschatteten das Vorhaben. Heute sind die Tore in Betrieb, doch viele Fachleute zweifeln, ob sie auf Dauer ausreichen.
Die Bewohner hoffen trotzdem, dass ihre Stadt nicht das Schicksal von Atlantis teilt.